
Bildungschancen sind eng verwoben mit Fragen der Bildungsqualität. Ein historischer Rückblick auf die Geschichte des Bildungsprivilegs widmet sich dem Zusammenhang zwischen Leistungsprinzip und Chancengerechtigkeit.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers Schule und Zivilgesellschaft.
Als wesentliche Leistung von PISA soll im Folgenden betrachtet werden, dass durch PISA die Diskussion um Qualität von Bildung auf eine neue Basis gestellt wurde. Der Begriff „Qualität“ wurde in der Erziehungswissenschaft der Vor-PISA-Zeit nur selten zur Analyse des eigenen Gegenstandsbereichs genutzt. So wird er z.B. in der elfbändigen Enzyklopädie Erziehungswissenschaft (1983/1995) nicht mit Bezug auf Bildung, Erziehung oder Institutionen der Bildung und Erziehung verwendet.
In anderen Disziplinen findet sich der Begriff jedoch schon damals, zum einen in den Ingenieurs- und Technikwissenschaften, zum anderen in der Ökonomie. In den Ingenieurswissenschaften sind Fragen der Qualität vorrangig Fragen der Harmonisierung und Standardisierung von Produktionsprozessen. Als Qualität gilt, wenn bei einer Massenfertigung von Produkten diese ohne zusätzlichen Anpassungsbedarf und ohne Risiken in andere (Produktions-)prozesse eingehen können.
Der Begriff Qualität und die Abgrenzung der Disziplinen
In den Wirtschaftswissenschaften ist der Begriff Qualität schon damals so allgemeingebräuchlich, dass es einen ausführlichen Diskurs zur Abgrenzung unterschiedlicher Qualitätskonzeptionen gibt. Der Qualitätsdiskurs richtet sich dabei abstrakt auf die Formulierung und Begründung von Kriterien, die es erlauben, Produktionsprozesse bzw. Produkte mittels Werturteilen zu unterscheiden; allgemeiner formuliert: das Ziel der Thematisierung von Qualität ist, Werturteile über Eigenschaften zu begründen.
Wenn man dies zu Kenntnis genommen hat und zugleich weiß, dass es auch Pädagogen nie fern lag, sich an der Formulierung von Bewertungskriterien für (Bildungs-)prozesse und -ergebnisse zu beteiligen, entsteht eine gewisse Erklärungsnot: Hätte es nicht schon damals nahegelegen, den Begriff der Qualität auch in der Erziehungswissenschaft zu adaptieren?
Ein Grund, warum das Konzept Qualität der Erziehungswissenschaft fremd blieb, ist vermutlich, dass im Mainstream der Disziplin eine ausgeprägte Distanz zu den Disziplinen herrschte, die schon vor einer oder mehreren Generationen einen Qualitätsdiskurs pflegten. Dies betrifft erstens die technischen Disziplinen, weil es für den Mainstream der Erziehungswissenschaft konstitutiv war, die Wirklichkeit nicht in Form definierter Wirkungszusammenhänge zu beschreiben.
Und das betrifft zweitens die Ökonomie, weil sich die Erziehungswissenschaft von der Ökonomie dadurch abgrenzte, dass sie Sinnzuschreibungen auch jenseits von Nutzenkategorien für möglich hielt und in Verstärkung dieser Position der Kategorie des Nutzens insgesamt ablehnend gegenüberstand. Qualität beruht aber auf der impliziten Annahme, dass es Wirkungen und Nutzen gibt, zumindest wenn man sich auf die verbreitete Definition „quality is fitness for purpose“ einlässt.
Exzellenz und Gleichheit
Wenn diese disziplinübergreifende Definition nicht zu Grunde gelegt wird, kann ein älteres, elitäres Konzept von Qualität Raum greifen: Dann wird Qualität mit einem exzellenten Ruf identifiziert, der nur wenigen ausgewählten Personen oder Bildungseinrichtungen zukommen kann. Wenn aber einzelne Bildungseinrichtungen tatsächlich bessere Bildungsmöglichkeiten für Heranwachsende bieten als andere, stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit des Zugangs.
Bildungseinrichtungen, denen ein Nimbus besonderer Qualität anhaftet, stehen im Verdacht, die soziale Gleichheit als Grundlagen der Demokratie zu gefährden. Qualität konnte in diesem gedanklichen Kontext nicht zu einem erziehungswissenschaftlichen Leitbegriff für die Organisation von Bildungssystemen oder für pädagogische Arbeit werden.
So trug die Tradition der Erziehungswissenschaft mit dazu bei, dass die Bedeutung von Qualität in pädagogischen Kontexten nicht weiter geklärt wurde und alltagstheoretische Vorstellungen öffentliche Diskurse beherrschten. Alltagssprachlich galt Qualität als das Im-Vergleich-zu-anderem-Herausragende, und zwar unabhängig von den Bedingungen seiner Entstehung.
In Qualitätsdiskursen der pädagogischen Praxis ging es nicht darum, Ressourcen mit Ergebnissen in Beziehung setzen, sondern um die Hervorhebung derer, die (ehemals schon) als die Besten galten.
Auserlesenheit: Qualität durch Herkunft
Diese Vorstellung von Qualität hat eine lange Vorgeschichte und findet sich historisch beispielsweise schon im Lehrbuch „L'Education Parfaite aux jeunes Gens de qualité“ des Jean-Baptiste Morvan de Bellegarde (1710) zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Der Frontispiz dieses damals verbreiteten Werkes (eine Abbildung, die sich auf der zweiten Seite eines Buchs befindet) zeigt zwei junge Männer, die – weniger disputierend als galant dialogisierend – vor dem Hintergrund einer barocken Schlossanlage dem Betrachter bzw. der Betrachterin entgegenflanieren.[1]
In unserem Zusammenhang ist interessant, dass die perfekte Erziehung, von der das Buch handelt, sich nicht mit Qualität im Sinne von fitness for purpose beschäftigt, sondern sich an auserlesene Männer von Qualität (gens de qualité) richtet. Qualität wird nicht als veränderliches Merkmal gesehen, sondern als unveränderliches Merkmal, dass den ersten Stand von den übrigen unterscheidet. Es handelt sich um die Zuschreibung einer qua Geburt gegebenen Eigenschaft. Qualität ist ein Begriff, mit dem Bildung weitgehend durch Herkunft ersetzt wird.
Ein demokratischer Gegenbegriff von Qualität
Eine zentrale Leistung von PISA und anderen Projekten der empirischen Bildungsforschung besteht bis heute darin, dass sie den Begriff der Bildungsqualität aus der Sphäre solcher Anmutungen herausgeholt haben. Wenn man heute einer Schule Qualität zuspricht, wird es kaum noch plausibel sein, diese dadurch zu begründen, dass die Professionellen einer Stadt (Mediziner, Juristen etc.) ihre Kinder bevorzugt dorthin schicken und dort traditionell ein hoher Anteil der Schüler/innen ein Studium an traditionsreichen Universitäten ergreift.
Stattdessen ist es heute common sense, dass für Aussagen zur Qualität Bedingungen, Prozesse und Ergebnisse gleichermaßen valide erfasst und miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen.
Dass eine qualitätsvolle Geburt – im Sinne Morvan de Bellegardes – den Ausgangspunkt für die Auswahl von Bildungsprozessen darstellt, ist eine Umkehrung dessen, was heute wissenschaftlich unter Bildungsqualität diskutiert wird. Vielmehr verbinden sich heute Qualitätsdiskurse mit der Frage, wie der Einfluss der durch Geburt erlangten sozialen Positionierung auf Bildung durch professionelles Handeln und institutionelle Arrangements reduziert werden kann.
Das Bildungsideal des Barock hatte seine Grundlage in einer ständisch stratifizierten Gesellschaft; es blendete die Frage nach der Gleichheit aller Menschen und auch die Effizienz der Ökonomie gleichermaßen aus. Veränderungen ergaben sich erst allmählich vor allem im 19. Jh. durch eine zunehmende Ökonomisierung und Demokratisierung der Gesellschaften.
Ökonomisierung und Demokratisierung schufen Möglichkeiten, über Leistung die eigene Position in der Gesellschaft zu verändern und Qualität nicht mehr nur als eine Frage der Herkunft zu sehen.
Emanzipation und Ökonomie
In der Bildungstheorie wurde bisweilen ausgeblendet, dass Demokratisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft eng miteinander verbunden waren. Bildungstheorie zeigte sich als Anwalt einer reflexiven Demokratisierung, d.h. sie stand für den Anspruch, die soziale Befreiung aus politisch defizienten Strukturen zu ermöglichen.
Befreiung sollte durch die individuelle Befähigung zur Analyse der eigenen Möglichkeiten und Ziele sowie zum Aufbau entsprechender Handlungskapazität gefördert werden. Gegenüber dieser Orientierung auf die Emanzipation des Individuums erschien eine ökonomische Ausrichtung als unangemessene Einschränkung des Möglichkeitsraums. Gesamtgesellschaftlich erwiesen sich die Ausweiterung von Bildungsmöglichkeiten und die Ökonomisierung jedoch als interdependente Prozesse.
Für die Erziehungswissenschaft ist dieser Zusammenhang problematisch, weil die Frage gelöst werden muss, wie die Selbstreflexivität und eigenständige Gestaltung von Lebensbezügen mit einer Positionierung in Bezug auf extern gesetzte Gütemaßstäbe (d.h. Leistung) vereinigt werden kann. Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet das Konzept der Bildungsqualität: Jedoch musste dieses Konzept zunächst transformiert werden, bevor es in die Erziehungswissenschaft Eingang finden konnte.
Die wesentliche Transformation bestand darin zu zeigen, dass Qualität kein elitäres Konzept ist. Mit PISA und anderen Projekten der empirischen Bildungsforschung gelang es, Fragen der sozialen Gerechtigkeit im Bildungssystem anschlussfähig an die Qualitätsdiskurse in anderen Segmenten der Gesellschaft zu thematisieren. Seit PISA 2000 wurde den Fragen der sozialen Determination von Bildungsergebnissen neue und verstärkte Aufmerksamkeit zuteil.
Die Chance des Leistungsprinzips
Heute sind wie in der Vergangenheit die Chancen auf ökonomische Leistung in jedem anderen Segment der Gesellschaft nicht herkunftsunabhängig, und dennoch ermöglicht eine Gesellschaft, in der Leistungsprinzipien umgesetzt werden, mehr individuell gestaltete Positionierung als jede andere Gesellschaft, die bislang erprobt wurde. PISA stellt ein wichtiges Instrument dar, um im internationalen Vergleich zu analysieren, wie viel individuelle Positionierung realistisch in einer Gesellschaft angenommen werden darf.
Eine lesson learned, die man aus der Entwicklung pädagogischer Diskurse ziehen kann, besteht darin, dass die Ausrichtung des Qualitätskonzepts weg von der Elitenbeweihräucherung hin zur Analyse des gesamtgesellschaftlichen Auftrags von Bildungssystemen nicht durch Dekonstruktion und Diskursanalyse errungen wurde, sondern durch ein objektivierendes Vorgehen, das sich standardisierter, sozio- und psychometrischer Verfahren bedient.
Der damit einhergehende Wandel des Diskurses zur Bildung, der heute weniger autoritätshörig und ohne empirische Vergewisserung kaum noch zu denken ist, wäre ohne PISA nicht wahrscheinlich gewesen.
Für die kommenden Jahre gilt es nun noch stärker hervorzuheben, dass die Nutzendimension von PISA nicht auf die Ökonomie begrenzt ist, sondern gesamtgesellschaftlich relevant ist. Es gilt z.B. stärker zu betonen, dass die erfassten Kompetenzen keine ökonomische Verkürzung repräsentieren, sondern grundlegende Fähigkeiten abbilden, ohne die es auch in der politischen Kommunikation keine Chance auf angemessene Repräsentation gibt.
Die Kompetenzen, die in PISA erfasst werden, sind zwar nicht mit dem klassischen Bildungskonzept gleichzusetzen, aber ohne Kompetenzen der Textarbeit und systematischen Auseinandersetzung mit Welt sind auch reflexive Bildung und Emanzipation nicht möglich.
Literatur
Morvan de Bellegarde, Jean-Baptiste (1710). L'Education Parfaite : Contenant Les manières bienséantes aux jeunes Gens de qualité, & des Maximes, & des Réfléxions propres à avancer leur Fortune. Amsterdam : 1710.
[1]: Der Frontispiz des Lehrbuchs „L'Education Parfaite aux jeunes Gens de qualité“ von Jean-Baptiste Morvan de Bellegarde (1710) kann im Online-Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des DIPF aufgerufen werden.